Warning: Undefined variable $idd in /home/.sites/84/site2667239/web/cms/wp-content/themes/ue-ridler/single-projekte.php on line 8 Gerda Ridler | Timm Ulrichs: Nie mehr Zweite Liga!

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Timm Ulrichs, Betreten der Ausstellung verboten!, 1968/2007,
Auflage 250, Exemplar 127

Gerda Ridler: „Nie mehr Zweite Liga!“
Publiziert in: Timm Ulrichs. Blick zurück nach vorn. Ausst.Kat. Museum Ritter, hrsg. von Gerda Ridler, Heidelberg 2010

 
Gerda Ridler: Timm Ulrichs – „Nie mehr Zweite Liga!“ (2010)
 
Timm Ulrichs mag Fußfall. Daher nutzt er auch gern den metaphernreichen Fachjargon des Fußballs für seine pointierten Zitate über die Kunst und das Leben. Über Professoren an Kunstakademien sagt Timm Ulrichs beispielsweise, dass sie als erfahrungsreiche „Spieler-Trainer“ lebendige Vorbilder und Katalysatoren für ihre Stundenten sein sollten; denn diese seien ja lediglich ihre jüngeren Künstlerkollegen. Und rückblickend auf seine künstlerische Karriere der letzten fünfzig Jahre erklärt Timm Ulrichs: „50 Jahre Zweite Liga. Immer spielte ich auf matschigen Plätzen, für wenig Geld und vor wenig Publikum.“
 
Der Mittelstürmer
Timm Ulrichs ist einer der erfindungsreichsten und aktivsten Künstler Deutschlands. Er hat in den letzen fünfzig Jahren eine Vielfalt an Werken geschaffen und dafür schon früh die Bezeichnung „Totalkunst“ eingeführt. Totalkunst definiert einen umfassenden Kunstanspruch, den Ulrichs seit 1959 als Ideen- und Konzeptkünstler, Maler, Bildhauer, Druckgrafiker, konkreter Poet, Autor, Fotograf, Filmemacher, Ego Artist, Performancekünstler, Sprachkünstler, Körperkünstler und zugleich als akribischer Archivar verfolgt. Mit Totalkunst bezeichnet Ulrichs die Summe aller künstlerischen Möglichkeiten, die ihn weder auf künstlerische Techniken noch auf die Verwendung bestimmter Materialien festlegt. Bevorzugte Verbreitung findet seine Totalkunst als Multiple. Mit der massenhaften Streuung seiner Ideen in Form von Auflagenobjekten will Ulrichs zur Entfetischiesierung der Kunst beitragen. Als Instrument der Demokratisierung soll das Multiple ein großes Publikum ins Stadion der Ulrichs’schen Kunst locken. Dort werden die Betrachter keine Standardsituationen vorfinden. Denn Ulrichs versteht die Kunst als Spiel mit unbegrenzten und ungeahnten Möglichkeiten. Auf diese Weise hat der multimedial arbeitende Künstler eine markante Stürmerposition auf dem Spielfeld der Kunst eingenommen.
 
Taktische Ausrichtung
Wenn wir den Kunstmarkt mit dem Fußball vergleichen, so kann – da wie dort – die Taktik spielentscheidend sein. Eine der erfolgreichsten taktischen Methoden ist beim Fußball das defensive Spiel. Hier wird das Hauptaugenmerk auf die Abwehr gelegt. Ein gut eingespieltes Team aus Verteidigern verhindert, dass Gegentore erzielt werden. Mit großem Sicherheitsbonus in der Defensive spielt man nach vorne und versucht, mit schnellen Kontern Tore zu machen und so das Spiel zu gewinnen. Setzen wir nun die defensive Taktik des Sports im Bereich der Kunst mit dem Stil eines Künstlers gleich, so ergibt sich daraus folgendes Sinnbild: Der Stil eines Künstlers ist sein Markenzeichen, sein Wiedererkennungswert, den es zu verteidigen gilt. Ist der Stil eines Künstlers einmal bekannt und etabliert, von Kunstkritikern wohlwollend aufgenommen und von Kunsthistorikern kategorisiert, wird auf defensive Taktik umgestellt. Die Mannschaft der Abwehrspieler (Assistenten, Galeristen, Sammler) hat die Aufgabe, alle Angriffe gegen den Stil zu verteidigen. Zielgerichtet wird alsdann der Stil verbreitet, und wenn die Kunstwerke in wichtigen Museen und bei großen Sammlern untergebracht wurden, kann man das als Torerfolge bezeichnen. Fehlt nun diese gesicherte Abwehr, gibt es keinen einheitlichen Stil, kein Markenzeichen, keine hilfreichen Galeristen – so scheint man auf dem breiten Spielfeld der Kunst ganz verloren zu sein. Wer sich abseits des künstlerischen Mainstreams bewegt, die Neben- und nicht die Hauptwege der Kunst beschreitet, der muss sich auf sportliche Niederlagen und Relegationsspiele einstellen.
 
„Die Spiele werden hinten gewonnen“
Timm Ulrichs ist gewiss kein Defensivspieler, und eine gesicherte Abwehr kümmert ihn wenig. Er ordnet sich nicht gern einem System unter und übernimmt nur widerwillig eine von außen vorgegebene Taktik. Er ist der Ideenproduzent und bestimmt die Dynamik des Spiels. Was heute als Markenzeichen funktioniert, ist vielleicht morgen für ihn nicht mehr relevant. Denn lineares Denken ist ihm fremd, und Überraschungen gehören zu seinem Programm. Er liebt das spontane und offensive Spiel, er ist angriffslustig und versucht, immer neue künstlerische Möglichkeiten zu erproben. Dabei ist sein Trieb, in Richtung gegnerisches Tor zu laufen, stärker als sein Wunsch, das eigene Tor zu sichern. Doch die Profis sind sich einig: „Die Spiele werden hinten gewonnen.“
 
Die Spieler der Ersten Liga
Die meisten Künstler der Ersten Liga verfügen über ein solides Fundament an Abwehrspielern. Ihr Stil ist bekannt und festgelegt. „Sie sind bis zum Lebensende Sklaven und Gefangene ihrer eigenen Ideen“ , meint dazu Timm Ulrichs, für den Stil etwas „gleichbleibend Redundantes“ ist und der im Sinne seiner Totalkunst eine künstlerische Festlegung ablehnt und für einen „Stil der Stillosigkeit“ eintritt. Aber liegt nicht womöglich darin das Problem, dass Timm Ulrichs sich nicht festlegen mag und deshalb im Spielsystem Kunst in keine Schublade passt? Eine Arbeit von Günther Uecker erkennt man sofort, ein Werk von Jeff Koons ist rasch erfasst, auch einen Gerhard Richter oder Neo Rauch hat man prompt zu- und eingeordnet. Aber wie steht es mit einem Werk von Timm Ulrichs? Die Heterogenität seines Œuvres macht es nicht leicht, eine Arbeit des Künstlers sofort als „einen Timm Ulrichs“ zu identifizieren. Selbst für Eingeweihte ist es schwer, den Überblick zu behalten. Die Fülle an unterschiedlichen Werken steht der Eindeutigkeit der Rezeption und Einordnung entgegen.
 
Der Rechtsanwalt und Kunstliebhaber Peter Raue hat sich kürzlich in der „Zeit“ Gedanken über die „Künstler der Ersten Liga“ gemacht und Bedenken geäußert, dass an den wirklichen Meisterwerken der Gegenwart vorbeigesammelt wird. Denn seines Erachtens wird der Kunstmarkt lediglich von einigen Wenigen bestimmt und dominiert. Führende Galeristen und große Kunstsammler können Künstler in wenigen Wochen zu höchstbezahlten Weltstars machen. (Sie arbeiten gemeinsam in der Defensive und verfolgen das gleiche Ziel: die Spiele zu gewinnen und an der hoch dotierten Champions League teilzunehmen.) Haben die Werke dieser Künstler ein gewisses Preisniveau erreicht, wird über Qualität nicht mehr diskutiert. Denn „was teuer ist, ist gut“. So entsteht nach Raue eine gewisse Markthörigkeit, die jede Auseinandersetzung über den Kunstwert der hoch gehandelten Kunstwerke im Keim erstickt. Sein Fazit lautet daher: „Mangels nachprüfbarer Qualitätskriterien definiert der Markt den Rang der Kunst und nicht die Kunst den Preis der Werke.“
 
Der Tabellenplatz
Niemand wird bestreiten, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ruhm eines Künstlers und der monetären Bewertung seiner Kunstwerke gibt. Je ruhmreicher der Spieler, desto höher sind Gehalt und Ablösesumme. Selbst das Internetportal Artfacts.Net™ erkennt diese Tatsache an, aber betont, dass weder Popularität noch Geld dem jährlichen „Künstler-Ranking“ als Kalkulationsgrundlage zugrunde liegen. Die Reihung der wichtigsten Künstler erfolgt durch eine Bewertung der internationalen Ausstellungstätigkeit und der damit verbundenen fachlichen Aufmerksamkeit. Ausstellungen auf internationaler Ebene werden evaluiert und in ein Punktesystem überführt. Im Jahr 2010 wurden 231.826 Künstler bewertet. Timm Ulrichs rangiert auf der aktuellen Künstlerliste von Artfacts.Net™ auf Platz 916. Gerhard Richter ist der höchstnotierte deutsche Künstler und belegt den Tabellenplatz 4.
 
„Timm Ulrichs zieht an Gerhard Richter vorbei“
Im vergangenen Jahr hat Timm Ulrichs im Gebäude der Versicherungsgruppe VGH in Hannover das bisher größte Wandbild seines Lebens realisiert. Der Künstler, der trockene Statistiken gern anschaulich aufbereitet, hat die „Lieblingsfarben der Niedersachsen“ als neunzig Meter langes Mosaikbild gestaltet. Die in Blau, Rot und Grün und in weiteren acht Farben gefassten quadratischen Tafeln stellen die Farbvorlieben der Niedersachsen dar. „Das erinnert an Gerhard Richters Kirchenfenster im Kölner Dom“, sagt Ulrichs. „Richter ist damit zwar näher an Gott, aber ich bin in der Größe an Richter vorbeigezogen.“ Nicht nur in Sachen Größe spielt Timm Ulrichs nunmehr in der Ersten Liga. Führt man Ideenreichtum, Originalität, Humor, totalen persönlichen und körperlichen Einsatz und Offenheit nach allen künstlerischen Seiten als neue künstlerische Bewertungskriterien ein, dann sind Aufstieg und Klassenerhalt sicher. „Nie mehr Zweite Liga … nie mehr … nie mehr!“ , ertönt es dann von den Rängen.
 
Neue Spielregeln
Peter Raue stellt am Schluss seines Artikels „Sammeln wir die falsche Kunst?“ die Frage, wer in Zukunft Recht behalten wird. „Die Kunst und die Künstler, die heute Millionenpreise erzielen, oder die auf Seitenwegen Arbeitenden, verkannt von der Mehrheit, gesammelt von wenigen?“ Auch Timm Ulrichs beschäftigt diese Frage, hat er doch bekanntermaßen zum etablierten Betriebssystem Kunst schon lange eine kritische und distanzierte Haltung eingenommen. Die Künstler der Ersten Liga sind für ihn „Schönfärber und Kunsthandwerker von preislich gestützten, nicht nur schönen, sondern beschönigenden Statussymbolen privilegierter Gesellschaften“. Stattdessen sollen der Künstler zum „Ideen-Produzenten“ und das Kunstwerk zum vielfältig reproduzierten Auflagenobjekt werden. „Originelle statt originale Kunst“ fordert Timm Ulrichs, denn nicht mehr die Einzigartigkeit des Kunstwerks zählt, sondern die Einzigartigkeit der Idee. Im Idealfall interessiert sich auch der Betrachter und Kunstkäufer nicht mehr für den schöpferischen Akt, das Markenzeichen oder die persönliche Handschrift eines Künstlers, sondern er fordert permanent neue und überraschende Erfindungen. Name und Signatur des Künstlers sind unwichtig geworden, denn Geniekult und Künstlermythos haben ausgespielt. In diesem Sinne lautet Ulrichs’ Strategie: „Alle überleben – und dann die Kunstgeschichte umschreiben!“
 
Das Wunder von Berlin
Timm Ulrichs wurde 1940 in Berlin geboren, als Künstler ist er Autodidakt. 1959 beginnt er, inspiriert durch Literatur über Konstruktivismus und Bauhaus, Architektur in Hannover zu studieren. Zugleich entdeckt Ulrichs das Werk von Marcel Duchamp und Schriften über den Dadaismus und Surrealismus, deren Studium und Lektüre ein Fundament seiner künstlerischen Karriere werden sollte. Die revolutionäre Kunst des frühen 20. Jahrhunderts – das Dionysische des Dada und das Apollinische des Konstruktivismus – sollte fortan die Spannbreite seiner künstlerischen Aktivitäten bestimmen. Als erste lebende Weiterführung von Duchamps Konzept des „Ready-made“ stellt sich Timm Ulrichs 1966 in der Galerie Patio in Frankfurt am Main als „Erstes lebendes Kunstwerk“ in einer Vitrine aus. Um sich vor Nachahmung gesetzlich zu schützen, lässt er sich 1968 unter der Nummer 1535 ins Musterregister des Amtsgerichts Hannover eintragen. Seine Einmaligkeit als lebendes Kunstwerk ist seither amtlich dokumentiert. „Ich habe zu mir selbst als Objet trouvé gefunden, als Bewusstsein, das sich selbst ästhetisch nimmt“ , erklärt Timm Ulrichs. Knapp fünfzig Jahre später sagt er dazu: „Theoretisch bin ich auch jetzt noch ein Kunstwerk – ein gealtertes Kunstwerk mit Krakelees und Falten – da könnte jetzt mal ein Restaurator ran.“
 
[Gerda Ridler, 2010]

 

Widmung von Timm Ulrichs im Katalogbuch „Blick zurück nach vorn“, Ausst.Kat. Museum Ritter, Heidelberg 2010
 
„Liebe Gerda Ridler, nie zuvor hatte ich das Glück einer so schönen Zusammenarbeit in einem (so schönen) Museum wie hier mit Ihnen!
Mit größtem Dank,
Ihr
Timm Ulrichs
7. August 2010“

 

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