Warning: Undefined variable $idd in /home/.sites/84/site2667239/web/cms/wp-content/themes/ue-ridler/single-projekte.php on line 8 Gerda Ridler | Kunstgespräch mit Francois Morellet

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Widmung von François Morellet (1926-2016) im Katalogbuch der Ausstellung „Die Quadratur des Quadrats. Eine Introspektive, Museum Ritter, 2009

„Kunstwerke sind Picknickplätze“
Gerda Ridler im Gespräch mit François Morellet
 
Publiziert in: François Morellet. Die Quadrtur des Quadrats. Eine Introspektive. Ausst.Kat. Museum Ritter, hrsg. von Gerda Ridler, Heidelberg 2009

 
„Kunstwerke sind Picknickplätze“
Gerda Ridler im Gespräch mit François Morellet

 
Gerda Ridler:
„Könnte ich mich eingangs nicht erst einmal darüber wundern, dass so oft von den Künstlern verlangt wird zu schreiben und so selten von den Kunsthistorikern zu zeichnen?“
Obwohl ich dieses Zitat von Ihnen kenne, lieber François, möchte ich Sie dennoch herzlich bitten, die folgenden Fragen zu beantworten:
 
François, Sie sind einer der wichtigsten Vertreter der Geometrischen Abstraktion und seit den frühen 1950er Jahren einer ihrer Hauptakteure. Wo sehen Sie selbst Ihren Platz innerhalb der Konkreten Kunst?
 
François Morellet:
Bevor ich sage, wo ich meinen Platz in der Konkreten Kunst sehe, möchte ich darüber sprechen, welchen Platz die Konkrete Kunst in den Ländern einnimmt, die sich für abendländische Kunst interessieren. Die ersten Plätze belegen die Schweiz, Deutschland, die Beneluxstaaten, Brasilien, Argentinien und Venezuela, dann folgen die Länder, in denen man davon gehört hat, wie Italien oder die nordischen Länder, und schließlich jene Länder, in denen die große Mehrheit der Kunstliebhaber noch nie etwas davon gehört hat. Frankreich gehört zu dieser dritten Gruppe.
Ich glaube, in der Schweiz und in Deutschland hält man mich für so etwas wie einen Außenseiter der Konkreten Kunst. Manche meiner Werke, wie „La géométrie dans les spasmes“, „cul con non nul“, „RECREATIONS“ und „Après réflexion“, sind tatsächlich viel eher mit Dada als mit Max Bill verwandt. Eigentlich bin ich kein Anhänger seriöser, didaktischer Kunst. Die Vorstellung, die man sich von mir in Zürich oder in Rio de Janeiro macht, ist mit Sicherheit sehr verschieden.
 
Gerda Ridler: Sie haben zu Beginn Ihrer künstlerischen Laufbahn, im Jahr 1953, ein für diese Zeit sehr radikales und rigoroses Bild gemalt: „16 carrés“ – eine weiß bemalte Holzoberfläche, die von drei vertikalen und drei horizontalen Linien in 16 Quadrate geteilt wird. War das Ihre erste Liebe zum Quadrat? Und nun steht Ihre Ausstellung im MUSEUM RITTER unter dem Motto „Die Quadratur des Quadrats“. Was bedeutet dieser ironische Titel für Sie?
 
François Morellet: In einem kurzen Text am Anfang dieses Katalogs [siehe S. 6 im Katalog] habe ich mich ausführlich über meine chaotischen Vorlieben und auch über den Sinn (Un-Sinn!) der „Quadratur des Quadrats“ ausgelassen.
 
Gerda Ridler: Der Untertitel der Ausstellung lautet: „Eine Introspektive“. Was erwartet uns bei dieser Innenschau? Timm Ulrichs hat 2004 einen introspektiv-autobiografischen Film mit dem Titel „Durchsicht durchs Ich“ gedreht, bei dem eine winzige Kamera ihren Weg durch den Verdauungskanal des Künstlers dokumentiert. Geben Sie uns bei Ihrer Introspektive ähnlich intime Einblicke?
 
François Morellet: Ich habe das Substantiv „eine Introspektive“ aus viel frivoleren Gründen gewählt, als Sie vermuten. Zunächst einmal, weil es dieses Wort im Französischen nur als Adjektiv gibt und man im Gegensatz zu „Retrospektive“ nicht an eine Ausstellung denkt. Es handelt sich also nicht um eine Ausstellung, die meine Werke in historischer oder rekapitulierender Manier präsentiert. Nein, es handelt sich nur um eine Ausstellung von mir über mich, die mit dem Museum Ritter-Team realisiert wird. Es wird keine tiefsinnige, intime Botschaft enthüllt, die es nicht schicklich wäre, an einem öffentlichen Ort preiszugeben. Ich bleibe nun leider mal ein unverbesserlich frivoler Greis.
 
Gerda Ridler: Sie werden oft als bedeutender Vertreter der Konkreten Kunst bezeichnet. Dabei sind Sie doch alles andere als ein orthodoxer Verfechter dieser Zunft. Ihr Œuvre ist nicht puristisch streng, sondern gekennzeichnet von Humor und Ironie. Sie sind ein Meister der geistreichen Anspielung und Andeutung. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch die Kombination von geometrischem Kalkül und Lebensfreude aus. Man hat immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn man Ihre Werke betrachtet. Bezogen auf die Konkrete Kunst haben Sie gesagt, dass Richard Paul Lohse ein seriöser Vertreter war, Sie hingegen sind … ?
 
François Morellet: Ja, ich bin ein ungläubiger Orthodoxer, ein Lästerer aller Glaubensrichtungen! Oder, um mich weniger geschwollen auszudrücken, ich meide das Transzendentale und Seriöse. Mir scheinen Humor, Ironie, Spott und Frivolität die notwendige Würze zu sein, um Quadrate, Systeme und alles Übrige verdaulich zu machen.
 
Gerda Ridler: Neben der humorvollen Note zeichnet sich Ihr Werk durch Sparsamkeit, Effizienz und einen Hang zur Vereinfachung aus. Frei nach der Devise: größtmöglicher Nutzen durch kleinstmöglichen Einsatz.
 
François Morellet: Ja, das stimmt, ich bin stolz, wenn sich eines meiner Systeme mit einem Minimum an Aufwand „konkretisieren“ lässt, und außerordentlich froh, wenn das entstandene Werk nicht zu groß, nicht zu schwer und … nicht zu teuer ist (was die Herstellung angeht natürlich).
 
Gerda Ridler: Während Sie im Ausland und speziell hier in Deutschland ein sehr anerkannter Künstler sind, hat man den Eindruck, dass die Franzosen sich erst jetzt für Ihr Œuvre interessieren. Woran liegt das?
 
François Morellet: Ihre Frage habe ich mir natürlich auch schon gestellt. Das Desinteresse der Franzosen bezieht sich meiner Meinung nach auf die gesamte konstruktive, systematische und insbesondere die konkrete Kunst. Das ist umso erstaunlicher, da bis zum 19. Jahrhundert eine gewisse Vorliebe für konstruktive Strenge eine „ausgesprochen französische“ Spezialität gewesen zu sein scheint. Jean Fouquet, Georges de La Tour, Nicolas Poussin, Philippe de Champaigne, Ingres und andere waren nicht Vorläufer der Romantik, des Expressionismus, des Impressionismus, des Surrealismus oder sonstiger Mystizismen. Ihre Enkel im 20. Jahrhundert wären eher Leute wie Mondrian, van Doesburg, Vordemberge-Gildewart, Bill oder Lohse gewesen, die man in Frankreich unterschätzt. Es wäre an den klugen Kunsthistorikern herauszufinden, warum…
 
Gerda Ridler: Sie mögen Wortspiele. Sie haben einmal gesagt, dass Wörter dazu gemacht sind, dass man mit ihnen spielt. Ihre Arbeiten tragen immer Titel. Das ist sehr ungewöhnlich für einen geometrisch-abstrakt arbeitenden Künstler. Oftmals entfalten die Werktitel dem Betrachter ganz neue Dimensionen. Ich denke hier zum Beispiel an die Serie „La géométrie dans les spasmes“ [Die Geometrie im Raum (l’espace) bzw. in den Zuckungen (les spasmes)]. Liest man die Titel, offenbart sich plötzlich ein „geometrisches Kamasutra“.
 
François Morellet: Mein Interesse oder vielmehr meine obsessive Liebe für das Wortspiel beherrscht meine Sprache, meine Träume und meine Alpträume. Die Titel waren nicht von Anfang an „kontaminiert“. 1951 habe ich beschlossen, künftig jedem Werk einen Titel zu geben, gewissermaßen die Formel des zugrunde liegenden Systems, zum Beispiel „4 doubles trames traits minces 0° – 22°5 – 45° – 67°5“ [4 doppelte Raster dünne Striche]. Das erschien mir neutral, klar, sympathisch und ermöglichte es im Prinzip, das Werk noch einmal neu zu machen.
Doch nach und nach kam mir das seriös, didaktisch, langweilig vor. Um nun vor allem dieser Seriosität, die ich ablehne, aus dem Wege zu gehen, habe ich generell mit Worten gespielt:
„désintégration architecturale“ (anstelle von „d’intégration“), „Géométrie dans les spasmes“ (anstelle von „dans l’espace“) oder im Englischen „neonly“ (anstelle von „only neon“) oder im Anglo-Französischen „Géométree“ (anstelle von „géométrie), „Balance-war“ (anstelle von „balançoire“). Ich habe auch mit abwertenden Titeln gespielt, wie sie einem böswilligen Betrachter einfallen könnten: „Relâche“, „Défiguration“, „Raté“, „Lamentable“. Im Englischen sind mir zwei Palindrome gelungen: „no end neon“ und „senile lines“. Das Ärgerliche an meinen Wortspielen ist, dass sie schon in Frankreich und England schwer zu verstehen sind, in Deutschland versteht man sie vermutlich gar nicht.
 
Gerda Ridler: Welche Bedeutung hat Marcel Duchamp für Sie? Sie haben ihn ja auch persönlich kennengelernt. Hat er Sie zu Ihrer Neigung und Ihrer Lust am Sprachspiel und an der Provokation inspiriert?
 
François Morellet: Marcel Duchamp hat für mich wie für viele andere eine große Bedeutung gehabt. Ich bin ihm begegnet, er war elegant, charmant und auch ein kluger Stratege. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass auch andere zur Dada-Familie gehörten wie Picabia, Arp, Man Ray, Schwitters und natürlich ihr gemeinsamer Vater Alphonse Allais, der, neben anderen Einfällen, seine Monochrome bereits auf dem „Salon des Arts incohérents“ von 1883 und 1884 ausgestellt hat.
 
Gerda Ridler: Bei unserem Besuch in Cholet haben wir uns über die Preissteigerung bei Kunstwerken unterhalten. Dabei erwähnten Sie, dass man in Paris eine Wohnung für „4 Stückchen Künstler-Scheiße“ kaufen kann …
 
François Morellet: Ja, wir haben davon gesprochen, wie verrückt die Preise für Kunstwerke geworden sind. Meine Preise scheinen mir im Vergleich zu denen manch anderer nicht so sehr gestiegen zu sein. Wir haben von den Manzoni-Dosen gesprochen, die sich für 100.000 € verkaufen lassen. Da wir im Austausch mit Manzoni in den Besitz von 2 Dosen gekommen sind, habe ich gesagt, mit 2 weiteren Dosen hätte ich in Paris eine Wohnung kaufen können!
 
Gerda Ridler: Sie haben viele Projekte im Außenraum realisiert. Wollen Sie mit ihren Kunst-am-Bau-Projekten die Architektur „kitzeln“?
 
François Morellet: Genau wie Sie denke ich, dass die Architekten sich sehr gut alleine Freude bereiten können. Aber um sich zum Lachen zu bringen, brauchen sie eine andere Person, die sie kitzelt. Ich biete mich ihnen als diese andere Person an, die dann eine Kleinigkeit, eine kleine Attrappe, anbringt, um ihre Architektur ein wenig zum Lächeln zu bringen.
 
Gerda Ridler: Stimmt es, dass Sie die Architekten für die Kriminellen der Kunst halten? Wenn ja, sind Ihre Kunst-am-Bau-Projekte Kavaliersdelikte?
 
François Morellet: Wie habe ich etwas so Exzessives über einen ehrenwerten Beruf sagen können, der sich von dem meinen derart unterscheidet?!
Die Werke der bildenden Künstler, die ich liebe, sind einfach, häufig provozierend, ziemlich leicht zu transportieren, zu lagern und zu zerstören, und, vor allem wenn sie zeitgenössisch sind, nur für ein kleines Publikum von Spezialisten interessant. Dagegen werden die Architekturen von einem immens großen Publikum wahrgenommen.
Zum Beispiel haben sich die New Yorker, die Berliner, die Pariser und die Einwohner von Bilbao sehr schnell für die Außenarchitektur ihrer von Frank Lloyd Wright, Mies van der Rohe, Piano–Rogers und Frank O. Gehry geschaffenen Museen für zeitgenössische Kunst begeistert. Dabei ist anzumerken, dass diese Museen keineswegs konzipiert worden sind, um Kunstwerke zu beherbergen und angemessen zu präsentieren. Bei einigen, wie in Berlin und Paris, musste im Inneren ein zweites Museum gebaut werden. Es ist allerdings immer möglich, eine „kleine Sünde“ anzubringen, die nur einer kleinen Minderheit von Liebhabern, für die sie bestimmt ist, ins Auge fallen wird.
 
Gerda Ridler: Sie variieren und arrangieren ältere Arbeiten immer wieder zu neuen Kompositionen. Könnte man das mit der Tatsache gleichsetzen, dass man Dinge in unterschiedlichen Lebensphasen und mit unterschiedlichem Alter anders wahrnimmt und anders bewertet?
 
François Morellet: Ja.
 
Gerda Ridler: Ein Beispiel für Ihre Neuinterpretationen ist die Serie mit der Zahl π. Diese mathematische Konstante ist inhaltlicher Bestandteil zahlreicher Werke. Sie taucht erstmals 1958 auf und wird 40 Jahre später weiterentwickelt. Was fasziniert Sie an der Zahl mit den unendlich vielen Nachkommastellen, der viele Mathematikschüler nur mit Unlust begegnen?
 
François Morellet: In den 1960er Jahren war ich den klassischen, ausgewogenen Konstruktivismus irgendwie leid. Ich habe also nach einem System Ausschau gehalten, dessen (unvorhersehbare) Resultate chaotisch sein oder mich zumindest in die Nähe eines barocken Minimalisten rücken könnten, was mich reizte. Meine Vorstellung war, subjektive Entscheidungen zu treffen, die anhand einer (einfachen) Spielregel nicht vorhersehbar waren, welche auf einer existierenden Folge beliebiger Ziffern basieren sollte (Telefonbuchnummern oder die Zahl π beispielsweise).
 
Gerda Ridler: „Kunstwerke sind Picknickplätze, wo man das verzehrt, was man selber mitgebracht hat.“ Können Sie uns dieses Zitat abschließend kurz erläutern?
 
François Morellet: Seit 1970/71, nachdem ich gemerkt hatte, dass es „der aufgeklärte Kunstliebhaber ist, der den Werken einen Sinn verleiht“ – ohne Rücksicht darauf, was der Autor zu sagen oder zu schreiben hatte und oft im krassen Gegensatz zur Interpretation anderer Kommentatoren – habe ich (nach vielen Umwegen, die darzulegen der Platz hier nicht ausreicht) den Schluss gezogen, dass „… die bildende Kunst es dem Betrachter erlauben muss, das in ihr zu finden, was er möchte, das heißt das, was er von sich aus mitbringt. Kunstwerke sind Picknickplätze, spanische Wirtshäuser, wo man das verzehrt, was man selber mitgebracht hat…“.
 
Waldenbuch/Cholet, Februar 2009
 
[Deutsche Übersetzung der Antworten von François Morellet: Uta Nusser]